NZZ am Sonntag, 7. November 2021
An jenem Tag, als 20 Frauen in Kabul es wagten, gegen das Demonstrationsverbot zu verstoßen und noch einmal öffentlich ihr Recht auf Bildung und Arbeit zu fordern, dauerte es keine zehn Minuten, da tauchten jene auf, die ihnen das Recht verwehren. Mit Knüppeln und auf die Frauen gerichteten Sturmgewehren zeigten die Taliban, dass alle Macht bei ihnen liegt. Keine hundert Meter Strecke schafften die Demonstrantinnen an jenem 21. Oktober, da war ihre tapfere Revolution bereits vorüber. Die hochgereckten handgeschriebenen Plakate, auf denen die Worte Freiheit und Würde standen, fallen gelassen im Schrecken der Flucht, waren das letzte, was im Straßenstaub Kabuls davon übrig blieb. Und dennoch lag in diesen kurzen Momenten eine Hoffnung: die Bilder ihrer Verzweiflung mögen um die Welt gehen und dem erlahmenden Interesse der Internationalen Gemeinschaft wieder Auftrieb geben.
„Wenn ihr uns vergesst, sind wir verloren. Wenn ihr nicht für uns kämpft, werden wir unsichtbar.“ Diese Sätze der Aktivistinnen sind im Monat drei nach der Machtübernahme der Taliban begleitendes Mantra jeder Frage nach dem Heute und Morgen. Die Annahme, die Internationale Gemeinschaft habe genügend Faustpfand gegen die Taliban, um den Frauen Afghanistans eine Zukunft ermöglichen, ist zwar so illusorisch wie der Glaube, man ertrinke in einer Sintflut nicht, doch Aufmerksamkeit ist der letzte Rettungsring, der nun noch bleibt.
In einem Gebäude irgendwo in Kabul sitzen in den Tagen um diesen 21. Oktober herum zehn Frauen an einem Konferenztisch und legen die Grundlage für eine neue Gruppe von Aktivistinnen. Sie alle tragen perfektes Make-Up, modische Kleidung und bunte Tücher um die Haare, denn auch das ist ihr Widerstand: Das Beharren auf Eitelkeit und Schönheit.
Draußen ist die Stadt mit ihrem Lärm zu hören, drinnen ist es durch die heruntergelassenen Lamellen dunkel und die Frauen sprechen mit gedämpften Stimmen, als könnten sie noch durch die Wände belauscht werden. Aufmerksam hören sie einem Mann zu, der ihnen erklärt, wenn sie nur laut blieben, voller Zorn, würden auch sie so berühmt, wie Shukria Barakzai und Fausia Kufi. „Auch die haben mal als Unbekannte angefangen und heute sind sie berühmt“, sagt er über die beiden prominentesten Frauenrechtlerinnen Afghanistans. Die Anwesenden nicken. Erst nach einer ganzen Weile wendet eine ein, die beiden ehemaligen Parlamentarierinnen hätten sich aber doch ins Ausland gerettet, kämpften von dort in sicherer Position. „Für sich, nur für sich“, sagt sie .„Aber wir sind dem Leben hier ausgesetzt, wir müssen es mit den Taliban aufnehmen.“ „Sie leben in Frieden“, sagt eine andere. „Und wir fürchten uns.“
„Geschockt sind wir. Fassungslos. Verzweifelt. Unserer Träume und Zukunft beraubt. Gefangen im eigenen Haus. Voller Angst, es klopfe jemand an die Tür. Verflucht sind wir, in diesem Land geboren zu sein. Verflucht ist dieses Land. Verflucht seien die Taliban und der Krieg, die Regierung, die uns im Stich ließ, die Männer, die uns nicht verteidigten, der Westen, der uns auslieferte. Tod sind wir, auch ohne gestorben zu sein. Sag uns, was ist uns geblieben? Worauf können wir noch hoffen? Wer wird uns retten?“
Es ist der düstere Sound eines Requiems, der sich in diesem Herbst durch alle Gespräche mit den Frauen in Kabul zieht. Mit Mädchen, die nicht mehr zur Schule gehen dürfen, mit Karrierefrauen, die alles verloren, mit Künstlerinnen, die keine Kunst mehr machen, mit Journalistinnen, die nicht mehr schreiben dürfen. Mit Müttern, die um ihre Töchter fürchten. Je höher ihre Bildung, je härter sie dafür arbeiteten, Universitäten zu besuchen, Abschlüsse, Doktortitel, Positionen zu erreichen, desto tiefer scheint ihnen der Abgrund, in denen sie gefallen sind. Die Eintönigkeit jeden Tages raubt vielen die Energie, macht sie depressiv. Schule, Universität, Fitnessstudio, Cafés, Arbeitsplatz, nichts haben sie mehr. Und dazu die Furcht, dies sei erst der Anfang, die Taliban würden noch ihr wahres Gesicht zeigen, Gewalt und Isolation bringen.
„Wenn die Internationale Gemeinschaft die Taliban gewähren lässt, sind wir verloren,“ sagt die junge Aktivistin und ehemalige Regierungsbeamtin Rahil Talash. Die 27jährige hat bereits Erfahrungen mit dem Gefühl des Ausgeliefertseins. Ihr Vater wollte ihr den Schulbesuch verbieten, mit 17 wurde sie verheiratet, ihre Scheidung machte sie zu einer „unmoralischen Frau.“ Talash hat vor Monaten, da rückten die Taliban näher an Kabul, eine WhatsApp-Gruppe begründet, in der 217 Frauen vertreten sind. Doch nicht einmal 20 davon sind noch im Land. Mit zehn anderen Frauen organisierte sie im August einen Protest in einem der Parks von Kabul - zunächst getarnt als Geburtstagsparty. Nach einer Viertelstunde waren die Ordnungshüter der Taliban mit ihren Gewehren da.
Auch Parwona Ibrahimkhail, 21 Jahre alt, ist bei der konstituierenden Sitzung der neuen Aktivistinnengruppe dabei. Sie hat einen youtube-channel, auf dem sie zu landesweiten Protesten auffordert. „Der Widerstand beschränkt sich auf die großen Städte Kabul, Herat und Mazar-i-Sharif. Das ist ein Problem, denn die Frauen auf dem Land leiden sehr.“ Die häusliche Gewalt, sei Ibrahimkhail, nehme zu, weil die Männern ohne Arbeit und verzweifelt seien, die Frauen zuhause ihrer Wut nicht mehr entkommen könnten. Es sei notwendig, auch diese Frauen zu mobilisieren, doch wie? „Sie haben keine smartphones und keine Computer. Wir müssen herausfinden, wie wir sie erreichen können.“
Für Ibrahimkhail ist der Widerstand gegen die Taliban mehr als nur eine politische Aktion für Rechte, es ginge, sagt sie, auch um das wirtschaftliche Überleben. „Tausende von Frauen ernähren ihre Familien. Die Armut ist groß und wenn sie nicht mehr mitarbeiten dürfen, werden sie hungern.“ Schon jetzt sei die Verzweiflung so groß, dass Menschen ihre Kinder verkauften oder Familien ihre blutjungen Töchter an alte Männer verheirateten. „Diese Fälle waren die Ausnahme, nun werden sie die Regel.“
Als die Proteste nach der Machtergreifung der Taliban begannen, trugen deren Organisatorinnen noch Namen, die bekannt waren. Doch nun haben die erfahrenen Aktivistinnen das Land verlassen, viele haben ihre accounts gesperrt. Frauenorganisationen wie RAWAA, Revolutionary Organisation for women of Afghanistan, die älteste Frauenorganisation Afghanistans, haben ihre öffentliche Arbeit eingestellt. So bleibt der Widerstand an denen hängen, die keine Möglichkeit haben, zu fliehen, und er besteht größtenteils aus ad hoc Gruppen ohne Erfahrung. Viele der jungen Frauen haben sich erst mit der Machtübernahme der Taliban und dem plötzlichen Verlust all ihrer Rechte politisiert. Und die wenigsten erhalten Unterstützung von ihren Familien. „Sie haben Angst um uns“, sagt Talash, „und möchten, dass wir versteckt bleiben.“
Mit dem Verbot der Demonstrationen steht die Frage im Raum, wie sie sichtbar bleiben. Plan B - über facebook und twitter - birgt die Gefahr der Verfolgung durch die Taliban. „Sei schicken mir Freundschaftsanfragen, um meine Posts zu sehen“, erzählt Talish. „Sie finden meine WhatsApp Nummer und schicken mir Drohungen. Ständig habe ich Angst, von den Taliban angehalten zu werden und sie durchsuchen mein Telefon.“ Auch die Idee, zu Veranstaltungen in privaten Häusern Medienvertreter einzuladen, zeigt die Hilflosigkeit. Denn lokale Journalisten werden diesen Treffen aus eigener Angst fernbleiben, die internationale Presse verliert bereits jetzt das Interesse an dem Aufstand der Frauen. Das Engagement der Frauenbewegungen im Westen, auf das die Aktivistinnen noch immer hoffen, ist bislang ausgeblieben. „Jeden Tag fragen wir uns, warum uns unsere Schwestern im Westen nicht hören“, klagt Talash.
Die Hoffnung, etwas von Innen zu bewirken, ist längst erloschen, wenn sie denn je bestand. Nichts an der bisherigen Regierungsführung der Taliban deutet daraufhin, dass die freiheitlichen Errungenschaften der vergangenen 20 Jahre von ihnen respektiert werden. „Natürlich wollen wir den Taliban zeigen, dass wir uns nicht einschüchtern lassen, sie uns nicht einsperren können. Das sollen sie wissen. Aber wir erwarten nicht, dass sie das begreifen. Sie sind zu ungebildet.“ Zahra Malekzada ist 21 Jahre alt und Taekwondo-Kämpferin im afghanischen Frauennationalteam. Das allein reicht schon, sie zum Feindbild der Taliban zu machen. Malekzada ist dazu noch Hazara, eine Ethnie, die es gegenüber den mehrheitlichen Paschtunen, zu denen auch die Taliban gehören, bereits seit Jahrhunderten marginalisiert und verfolgt wird. Für ihren Platz im Nationalteam hat die 21jährige hart gekämpft, zwei Jahre lang trainierte sie heimlich ohne das Wissen ihrer Familie, offenbarte sich erst nach ihrem ersten Sieg auf nationaler Ebene. Auch ihr Ingenieurstudium setzte sie gegen den Willen des Vaters durch. Im Frühherbst hätte sie ihren Abschluss gemacht, doch da waren die Universitäten für Frauen bereits geschlossen.
Malekzada ist eine schöne Frau, die sich auch gerne als solche zeigt. Ihr Kleid ist leuchtend gelb, ihre Augen stark geschminkt. Sie sagt Sätze wie „Es ist nicht mein Problem, wenn die Taliban ihre Blicke nicht kontrollieren können“ und „Ich lasse mir von dummen Männern nichts sagen.“ Auch sie ernährte ihre Eltern und Geschwister, das verschaffte ihr eine Stellung in der Familie. Nun, wo kein Geld mehr von ihr kommt, setzt der Vater sie unter Druck, zu schweigen . „Ich bin nutzlos geworden, so wie die Taliban es für alle Frauen in Afghanistan vorsehen.“ Jetzt will sie will nur noch raus aus dem Land. „Wenn ich aktiv bin, bin ich gefährdet,“ sagt sie.
Längst wohnt der Dynamik der Frauenproteste ein großes Missverständnis inne. Es liegt in der Annahme - erweckt von der Vielzahl der Artikel, die in den westlichen Medien als Heldengeschichten über aktivistische Frauen erzählt wurden - Präsenz in den sozialen Medien und Namensnennung in einem Artikel der ausländischen Presse seien einen Garantie, ausser Landes gebracht zu werden. Kein Gespräch in Afghanistan endet ohne die Frage, ob man helfen können, evakuiert zu werden. Die Überzeugung, Journalisten könnten die Tür in den Westen öffnen, ist so tief, dass gegenteilige Erklärungen als kalte Gleichgültigkeit interpretiert werden.
Welche Hoffnungen dieses Missverständnis erzeugt, zeigt ein Satz, der auf der konstituierenden Sitzung der neuen Frauengruppe fiel, die nun „kämpfende Frauen“ heisst. „Wir werden Widerstand leisten, solange wir hier sind“ sagt eine der Frauen. „Aber wir hoffen, das wird nicht für immer sein.“
Eine Woche nach der konstituierenden Sitzung treffen sich die „Kämpfenden Frauen“ erneut, um ihre Forderungen zu formulieren. Gut die Hälfte möchte den Schwerpunkt auf das Recht auf Bildung und Religionsfreiheit legen, die andere auf Arbeit, um der wirtschaftlichen Not zu begegnen. Am Ende setzt sich die zweite Gruppe durch, wird beschlossen, vor allem für das Recht auf Arbeit und auf politische Teilhabe einzutreten. Auf der Forderungsliste stehen außerdem: Keine ethnischen Säuberungen, keine Frauenfeindlichkeit, kein Staat, der auf den Gesetzen des Propheten begründet wird. Veröffentlicht werden diese Forderungen auf facebook. Jene, an die sie gerichtet sein sollten, werden sie kaum lesen - und wenn doch, dann nicht mit Verständnis.
Rahil Talash hat auf facebook ein neues Profilbild eingestellt. Es ist die Zeichnung einer Frau, die versucht, sich über eine Mauer zu stemmen, doch an ihren Beinen sind Seile befestigt. Das Titelbild dahinter aber zeigt eine Frau, die einen Arm kämpferisch nach oben streckt. Der Widerstand der afghanischen Frauen - ein Ringen zwischen Fesseln und Freiheitsstreben. Was davon überwiegen wird, bestimmen die Taliban und ganz vielleicht der Umstand, wie lange sich der Westen noch für das Schicksal der Afghaninnen interessiert.
Dummy Magazin, Nr 62, März 2019
André K. war mein Fahrer in Ruanda, bevor man ihn wegen Völkermordes zu lebenslänglicher Haft verurteilte. Nun ist er im Gefängnis gestorben und sein Tod hat endlich die Frage, ob er schuldig oder unschuldig ist, überflüssig gemacht.
Sechs Jahre lang habe ich ihn nicht besucht. Aus Feigheit, vielleicht. Weil ich fürchtete, er würde in meinen Augen die Zweifel an seiner Unschuld sehen. Weil es so schwierig gewesen wäre, noch einmal eine Erlaubnis zu bekommen, ins Gefängnis von Nyanza zu fahren. Hauptsächlich aber, weil ich nicht wusste, was ich ihm hätte sagen sollen. Weder dem verurteilten Völkermörder noch dem Mann, der bis zum Schluss behauptete, er sei es nicht gewesen. Für den ersten hätte ich keine Worte gehabt, für den zweiten keinen Trost.
Nun hörte ich, er ist tot, gestorben an Herzversagen. Was immer das heißt. Vielleicht ertrug er die Haftbedingungen nicht, vielleicht starb er an dem Gedanken, nie mehr frei zu sein. Vielleicht bringt es einen um, unschuldig im Gefängnis zu sitzen. Oder schuldig zu sein und es nicht gestehen zu können.
Woran erkennt man einen Mörder? An seinen Händen? Seinen Augen? Am flackernden Blick, der Glattheit seiner Sätze? Oder an der Beweislast, die am Ende dazu führte, ihn schuldig zu sprechen? Ich habe mir diese Frage viele Male gestellt und keine Antwort darauf gefunden. Er war mein Fahrer auf vielen Reisen durch Ruanda. André K. ein sanfter Mann mit einer Familie, für die er jeden Job annahm, um sie zu ernähren. Als ich ihn 2010 kennenlernte, hatte er eine feste Anstellung bei einer deutschen Investmentfirma, die ihn mir „lieh“, weil ich meine Geschichten in Ruanda auf eigene Kosten recherchierte. Damals wollte ich nach Nyamata und Ntarama, zwei Orte, an denen der Schrecken des Genozids bewahrt wird. In den Kirchen hatten während der 100 Tage des Mordens im Jahr 1994 Tausende von Tutis Schutz gesucht, in der Hoffnung, die Kirchen seien auch den Schlächtern heilig. Eine falsche Hoffnung: 10 000 Menschen wurden in der Kirche von Nyamata, 4 000 in der von Ntarama ermordet. Ihre Gebeine sind dort bis heute ausgestellt, auch die blutbefleckte Kleidung, und noch immer hängt der Geruch von Verwesung zwischen den Mauern.
Ich kam erst Jahre nach dem Genozid nach Ruanda. 1994, als innerhalb von 3 Monaten schätzungsweise eine Million Menschen umgebracht wurden, als überall im Land Leichen lagen, als jede Menschlichkeit verloren ging und Väter sich gegen ihre Kinder, Eheleute sich gegen ihre Partner, Brüder sich gegen ihre Schwestern wandten, lebte ich in Japan. Ruanda war weit weg, und das Wort Genozid hatte für mich keinen Inhalt, es war nur das Gefühl von Grauen und Entsetzen. Gräuel gab es damals viele auf der Welt, auch im Kaukasus und in Angola schlachteten Menschen einander ab, die Nachrichten dieser Kriege und Morde erreichten mich, ohne, dass ich mich betroffen fühlte.
2007, im Jahr meiner ersten Ruandareise, waren die schlimmsten Folgen des Völkermordes schon beseitigt. Die Toten, die man gefunden hatte, waren begraben, die Gedenkstätten errichtet, die abgebrannten Dörfer wieder aufgebaut, ein großer Teil der Mörder verurteilt. Kigali, die Hauptstadt, war dabei, sich von einem großen Dorf zu einer modernen Stadt zu entwickeln. Es gab Hotels, Coffeeshops, westliche Restaurants, chinesische Firmen bauten Bürohäuser mit gläsernen Fronten. Tee und Kaffee aus Ruanda eroberten den Weltmarkt, Kigali, so sagte der Präsident Paul Kagame, solle zu einem Drehpunkt für digitale Technik und Bankenwesen werden, Ruanda werde auferstehen, eines Tages werde man den Völkermord hinter sich gelassen haben und in eine helle Zukunft schauen. Es waren hoffnungsvolle Sätze. Es gab viele, die diese glauben wollten, und die bereit waren, sich mit den Mördern und der Vergangenheit zu versöhnen, um der Zukunft der Kinder willen.
André war ein guter Fahrer und ein sehr tauglicher Dolmetscher. Es waren lange Fahrten, die wir unternahmen und nach und nach erzählte er mir seine Lebensgeschichte. Von seiner Kindheit, karg und arm, aber frei und freundlich in einem der kleinen Dörfer inmitten von Ruandas grünen Hügeln. Dass er als erster aus seiner Familie die Schule abschloss. Von seiner Mutter, die sparte und sparte, um das Schulgeld für ihn zu bezahlen. Ich hatte solche Geschichten schon oft gehört, die von der Armut und auch die von der Kraft der Mütter, die ein besseres Leben für ihre Kinder wollen.
Er hatte offene Augen, eine bescheidene Art und eine natürliche Freundlichkeit. Schnell waren wir so vertraut, als würden wir uns schon lange kennen. Wir sprachen über meine drei Töchter und seine zwei Söhne, über Erziehung und Werte, darüber, wie die Kinder zu schnell groß werden, die Jahre verfliegen. Ob er oft in sein Heimatdorf zurückkehre, wollte ich von ihm wissen, und er antwortete mir: selten. Man neide ihm sein Leben dort. Die anderen im Dorf seien arm, ohne Perspektiven.
Es brauchte mehr als eine Reise nach Ruanda, bevor ich verstand, dass die Wunden nur an der Oberfläche heilten und Land und Menschen noch einen langen Weg vor sich hatten. Heute, 2018, gibt es eine neue Generation, die den Völkermord nur noch als Geschichte der Eltern kennt, die so leben will, wie andere Jugendliche auch, unbeschwert und mit eigenen Zielen. Damals aber liefen die meisten Völkermörder noch frei herum und Tausende von Toten lagen irgendwo unter der Erde verscharrt. Für ihre Angehörigen gab es kein Grab, das sie besuchen konnten, und das war ein zusätzlicher Schmerz. Viele Opfer waren verstümmelt, Frauen hatten Kinder ihrer Vergewaltiger, die sie nicht lieben konnten. Die Überlebenden litten unter posttraumatischen Störungen und ihre Geschichten waren so entsetzlich, dass ich oft wünschte, ich hätte sie nicht gehört.
Um die Masse der Mörder richten zu können, hatte man die traditionelle Rechtsprechung wieder eingeführt. „Gacaca“, hießen diese Gerichtsverfahren, bei denen man in jedem Dorf oder jeder Gemeinschaft Menschen wählte, denen man vertraut und diese wurden Richter über die Angeklagten. Hätte man damals alle Fälle vor ein ziviles Gericht gebracht, 180 Jahre hätte es gedauert, alle zu verhandeln. Denn auch Ruandas Richter waren dezimiert, ermordet oder auf der Flucht.
André und ich besuchten eine dieser Verhandlung, er dolmetschte, erklärte. Es ginge, erklärte er mir, nicht nur um angemessene Strafe, sondern auch darum, wie die Menschen wieder gemeinsam leben könnten. Deshalb erhielten geständige Täter, die zu den Leichen führten, zur Aufklärung beitrügen, Strafmilderung. Und nicht geständige Täter lebenslänglich.
Er ist mit mir kreuz und quer durch das Land gefahren. Irgendwann dachte ich, ich kenne ihn. Und er mich. Er hat immer dort angehalten, wo der Blick in die Weite ging. „Schau mal, wie schön. Das ist mein Ruanda.“ Er hat meinen Notizblock gehalten, wenn ich mit der Kamera rumfuchtelte, er hat aufgesammelt, was ich mit meinem ewig wirren Kopf verlor. Er hat mir die ruandische Geschichte nahe gebracht, hat endlose Fragen beantwortete. Er und ich loteten, wann immer wir über den Genozid sprachen, mit Worten aus, wie das Böse entstanden ist. Und manchmal haben wir einfach nur gescherzt, kauften Brot, Hähnchenschenkel und picknickten zusammen.
Man kennt doch einen Menschen, wenn man gemeinsam an einem gläsernen Sarg steht, darin liegt eine Frau, als wäre sie Schneewittchen. So war es in der Gruft der Kirche von Nyamata. All die anderen Toten - nur noch Gebeine, aufgereiht in Regale. Warum diese eine hier in dem Sarg? „Sie starb, weil man ihr einen Stock durch die Vagina, durch den Körper rammte, sie liegt hier stellvertretend für alle, deren Leiden maßlos war. “
Er brachte mich hinaus, als mir die Knie wackelten. Draußen sahen wir uns an. Das Entsetzen in meinen Augen spiegelte sich in seinen. Später schrieben wir in das Gästebuch. „Möge Gott verzeihen“ schrieb André. „Wem soll er verzeihen?“, fragte ich. „Uns“, sagte André. „Euch Hutu?“ „Nein, uns Menschen, die wir zu so etwas fähig sind.“
Ich kannte ihn kaum. Ich habe vielleicht 14 Tage mit ihm geteilt. Berechtigte mich das, seine von einem Gericht festgestellte Schuld zu ignorieren? Ich wusste von den Vorwürfen gegen ihn. Ich habe lange gebraucht, bis ich alles verstand. Zu kompliziert sind die Verwebungen und Verstrickungen, die es in einem ruandischen Dorf und in einer ruandischen Familie gibt. Die Allianzen und die Feindschaften. Dass eine Kuh als Geschenk ein Zeichen tiefer Freundschaft ist, und man eine solche Freundschaft nicht bricht, hatte er gesagt. Wie man jemanden töten könne, der eine Kuh geschenkt habe? Er sagte das so, als sei dies die eigentliche Unmenschlichkeit des Geschehens gewesen.
Als das Morden begann, hatte er seine Familie aus Kigali fortgeschickt zu Verwandten nach Uganda. Er selbst hatte sich aufgemacht in sein Heimatdorf, um nach seinen Eltern zu sehen. In seinem Pass war ein H für Hutu gestempelt, das brachte ihn durch die Straßensperren, die schon überall errichtet waren. Drei Tage war er zu Hause, da kam die Interahamwe, die Hutu-Todesschwadrone. Sie trieben die Dorfbewohner zusammen, wer ein T für Tutsi in seinem Pass stehen hatte, wurde an die Seite gestellt, um getötet zu werden. Er habe verhandelt, sagte André, habe Geld angeboten für das Leben der anderen. Sei nach Hause gelaufen, Bargeld zu holen. Als er zurückkam, waren die Tutsi bereits ermordet. Seine eigene Cousine zeigte ihn später an, behauptete, er habe mit gemordet. Aus Neid habe sie das getan, sagte André. Es gebe keine effektivere Art, jemanden zu vernichten, als ihn des Völkermordes zu bezichtigen.
Damals, als er mir alles erzählte, sagte er, die Verhandlung sei fast abgeschlossen, die Richter wohl von seiner Unschuld überzeugt. Die Zeugen hätten sich in Widersprüche verwickelt. Er sagte, Ruandas Gesellschaft sei von Neid und Missgunst geprägt. Als man ihn dann doch verhaftete, hatte ich ihn fast acht Monate nicht gesehen und als ich das nächste Mal nach Ruanda flog, waren seit der Verhaftung vier Wochen vergangen.
Ich bat den damaligen Generalstaatsanwalt um einen Termin, beantragte einen Gefangenenbesuch. Ob ich den Täter interviewen wolle? Nein, hatte ich erklärt. Er sei ein Freund. Ein unschuldiger Freund. Letztes hatte ich mit Trotz vorgebracht. Ich hatte für diese Behauptung keine Beweise. Doch ich wollte den Hahn nicht Verrat krähen hören.
Als ich die Erlaubnis zum Gefängnisbesuch in den Händen hielt, befielen mich Zweifel. Was, wenn er doch einer von den Tätern ist? Am Tag vor meinem Besuch traf ich mich mit seiner Frau. Als ich fragte, wovon sie nun lebe, weinte sie. Der eine Sohn hatte sein Studium abbrechen müssen, der andere die Schule. Kein Geld. Beide Jungen suchten nach Arbeit. Dazu die Scham, als Frau eines Mörders zu gelten. „Man kennt doch seinen Mann. Er ist unschuldig.“
Staubig ist der Weg, der von der Hauptstraße in Nyanza, Ruandas ehemaliger Königsstadt, abzweigt, sich unter Eukalyptusbäumen schlängelt, vorbei an Hütten, Maisfeldern, spielenden Kindern. Er endet an einer langen Mauer auf deren First Stacheldraht gezogen ist, ein eisernes Tor als Eingang. Gareza Mpanga, Gefängnis von Mpanga steht darauf.
Dass ich nicht von einer Hilfsorganisation, sondern als Privatperson kam, sorgte für Stirnrunzeln. Man rief den Direktor, der prüfte meine Papiere, offerierte dann eine Führung über das Gelände. Wenn ein Gefängnis schön sein kann, dann ist Mpanga ein schönes Gefängnis. Es gab einen Garten, einen Musikraum, Sportmöglichkeiten, die Schlafräume, wenn auch groß und mit Stockbetten, waren sauber und die Wände frisch geweißt. Den Unmenschlichen, sagte der Direktor, werde hier viel Menschlichkeit entgegen gebracht.
Er wusste nichts von meinem Kommen. Kein Telefon für die Häftlinge. Doch als man ihn in den Besucherraum brachte, begrüßte er mich, als habe er auf mich gewartet. Seine Freude, sein Strahlen waren so groß, dass der Direktor lächelte, die Wärterin lächelte. Beide zogen sich zurück, gaben uns Raum, alleine zu sprechen.
André war entspannt, er sagte, er werde gut behandelt, genügend zu essen, einen guten Platz zum Schlafen habe er auch. Er habe sich mit seinem Schicksal abgefunden. „Viele hier behaupten, sie seien unschuldig. Es nützt nichts, wenn ich das auch sage, warum sollte ausgerechnet mir jemand glauben“.
Er solle gestehen, wurde ihm während der Verhandlung gesagt, dann käme er mit Milde davon. „Ich kann nichts gestehen, was ich nicht tat“, hat er geantwortet. Da haben sie ihn zu lebenslänglich verurteilt.
Unsere Zeit zusammen war kurz, fliegende Worte, manches zu hastig. „Weißt du noch, Cyangugu?“ fragte er, und wir lachten. An diesem Ort im Südwesten des Landes hatte uns erst der Motor im Stich gelassen, dann wurde unser Geld gestohlen und die paar Francs, die wir noch hatten, investierten wir in Bier, das wir am Ufer des Kivu-Sees tranken.
Zum Abschied brachte er mich noch bis zum Tor. Er wies auf den Garten und sagte, er fände Trost in der Arbeit darin, im Wachsen der Pflanzen könne er den Kreis des Lebens verstehen. Er fragte nicht, ob und wann ich wieder komme. Ein Dank, eine Umarmung, die leise Bitte, nach seiner Familie zu sehen.
Ich bin nie wieder nach Nyanza gefahren. Ich habe versucht, für ihn ein neues Verfahren zu eröffnen. Ich las Berichte über die Fehlbarkeit der Gacaca-Gerichte, die Struktur der ruandischen Gesellschaft, die es ermöglichte, dass Schuldige davon kommen und Unschuldige verurteilt werden. Ich schrieb Menschenrechtsorganisationen an. Überall stieß ich auf Befremden. Der Mann sei schließlich rechtmäßig verurteilt. In Ruanda sagte man mir, ich möge meine Empathie lieber für die Opfer zeigen, die Verstümmelten, Vergewaltigten, Traumatisierten. Zweimal noch besuchte ich seine Familie, bis sie wegzogen und ich mir nicht die Mühe machte, zu erfahren, wohin. Eigentlich war ich erleichtert.
Die Jahre vergingen und das Interesse an Ruanda veränderte sich, der Völkermord und seine Folgen rückten in den Hintergrund, nun ging es um Ruandas kometenhaftem Aufstieg aus der Asche, um Wirtschaftswachstum, Entwicklung und um die Frage, ob sein Präsident ein Held oder ein skrupelloser Autokrat sei. Die geständigen Mörder, die nur 15 Jahre Haft erhalten hatten, kehrten nach Hause ihren Opfern und es erforderte ein schier unermessliches Maß an Vergebung und Disziplin, um den Frieden im Land zu erhalten. Ich schrieb nun Geschichten, in denen der Genozid Historie war und begann, André zu vergessen.
Dass er tot ist, hörte ich über fünf Ecken und erst einige Wochen nach seiner Beerdigung. Auch erfuhr ich, seine Frau habe sich scheiden lassen, seine Söhne hätten das Land verlassen. Ich denke, wie einsam er gewesen sein muss. Auf eine seltsame Weise relativiert der Tod die Frage, ob er schuldig oder unschuldig war. Gestorben ist ein Mensch, den ich einmal kannte. Darüber darf ich traurig sein.
chrismon plus Dezember 2016
In der JVA Lübeck wird für ein Theaterstück geprobt. Die Spielerinnen sind eine Betrügerin und eine Totschlägerin. Beide verbindet etwas, das es im Gefängnis selten gibt: eine Taufpatenschaft
Für die Liebe braucht Anke Luft. Sie ruckelt am Bund ihrer Jeans, drückt die Schultern nach hinten, atmet tief. „Ich habe die Liebe getroffen. Bin zufällig darüber gestolpert. Er saß da, ruhig, ahnungslos.“
„Stopp“, ruft Ivan. „Mach das noch mal. Lauter, enthusiastischer. Die Liebe, verstehst du, du hast die Liebe getroffen. Ich meine, wie oft passiert einem das im Leben?“
Anke nickt, wie Anke immer nickt. Ein wenig ergeben, ein wenig müde. Anke ist oft müde, zwei Wochen hintereinander acht Stunden Arbeit in der Wäscherei, dann zwei freie Tage, das setzt ihr zu. Und was es bedeutet, die Liebe zu treffen, ist gerade kein Thema in ihrem Leben.
Es ist achtzehn Uhr, draußen in der Freiheit geht ein Spätsommertag in einen milden Abend über, durch die vergitterten Fenster hört man die Vögel zwitschern. Seit acht Wochen probt der Kieler Schauspieler und Regisseur Ivan Dentler mit inhaftierten Frauen in der Justizvollzugsanstalt Lübeck für ein Theaterstück, das öffentlich aufgeführt werden soll. „Ganze Tage, ganze Nächte“, der Franzose Xavier Durringer hat es geschrieben, es ist eine Abfolge von Szenen, in denen es um Gefühle und deren Verlust geht, aber auch um Schabernack und Hintersinn.
KINDSTÖTERINNEN HABEN EINEN SCHWEREN STAND IM KNAST
Es war Ankes Idee, dass sie und Lena an dem Theaterprojekt teilnehmen. Anke hatte Lust, mehr noch aber wollte sie, dass Lena mitmacht. Damit diese mal ein bisschen selbstbewusster wird. In eine andere Rolle schlüpfen kann. Damit sie lernt, laut zu sein und sich zu wehren. Lena, die deshalb im Gefängnis ist, weil sie wie ein Blatt im Winde durchs Leben getrieben wird. Lena und Anke. Anke und Lena. „Das Doppelpack“, sagt Anke. „Uns gibt es nur noch zusammen.“
Als Lena an ihrem 30. Geburtstag ihre Haftstrafe antrat, 2. April 2016, Frauenvollzug, Haus H, war Anke, sechs Jahre älter, bereits zwei Jahre dort. Sie saß wegen schweren Betrugs, Gesamtstrafe: vier Jahre.
Da hatte sie schon alles im Griff, weil Anke eine ist, die immer alles im Griff hat. Ordentlich, organisiert. Sie wusste schnell, wie der Hase läuft. Der Alltag. Die Regeln. Anke hatte die Langeweile im Griff, sie füllte sie damit, Briefe an ihre Familie zu schreiben. Das Heimweh, gegen das sie ihre Zelle mit Fotos von zu Hause gepflastert hatte. Die Einsamkeit, die sie vertrieb, indem sie sich verpuppte wie eine Larve. Wollte keinen Besuch, zog immer dieselben Sachen an: Jeans, Turnschuhe, T-Shirt. Keine Eitelkeit. Kein Begehren nach Dingen, die sie sowieso nicht mehr haben konnte. „Alles gut“, sagt Anke oft, wenn es um Gefühle und Befindlichkeiten geht.
Lena kam in den Frauentrakt wie ein junger Bär, der sich verirrt hat. Übergewichtig, mit einem tapsigen Gang, Kindergesicht, Lispeln in der Stimme und einer inneren wie äußeren Orientierungslosigkeit. Sieben Jahre Haft wegen Totschlags.Sie hatte ihr viertes Kind in der Badewanne geboren und dort ertrinken lassen. Kindstöterinnen haben einen schweren Stand im Knast. Anke wusste das. Lena wusste das. „Mörderin“, haben sie hinter ihrem Rücken gesagt. „Ich habe sie mal lieber unter meine Fittiche genommen“, sagt Anke. „Und seitdem gebe ich mir Mühe, sie immer wieder aufzubauen.“
Freundschaft im Gefängnis ist eine seltene Sache. So wie auch Vertrauen selten ist. Beides währt oft nur so lange, wie es Vorteile bringt. Denn vor allem darum geht es im Knastalltag: für sich selber das Beste rauszuholen. Tricksen, blenden, sich ducken oder sich behaupten. Man muss irgendwie überleben, sagt Anke. Und Lena sagt, man muss sich manche Zuneigung erkaufen. Bei Anke aber habe sie das nie gemusst.
Anke und Lena. Die eine lenkt, die andere folgt. Lena muss lernen, Pläne zu machen, Ziele zu haben, mal bei einer Sache zu bleiben. Nicht alles immer hinzuwerfen, nicht immer vor allem zu kapitulieren. Sich zu wehren. Sie lässt sich von anderen immer alles abschnacken, Kaffee, Kekse, Zigaretten, immer gibt sie alles her. Sagt Anke. „Lena ist einfach zu gut für diese Welt. Sie hat ein zu großes Herz.“
„Manchmal bin ich beleidigt mit ihr. Aber ich weiß, dass sie recht hat. Ohne sie würde ich eingehen.“ Das sind Sätze, die Lena über Anke sagt.
Die ersten Proben mit den Gefangenen finden in einem großen Raum statt, der auch Sportraum ist, zwischen Fitnessgeräten und Tischtennisplatte. Vor den Fenstern sieht man Mauern und Stacheldraht, Gebäude und weitere Mauern. Die ersten Proben sind eine Katastrophe. Keine der Teilnehmerinnen kann sich länger als zwei Minuten konzentrieren, alle fremdeln mit dem Text. Und alles wird in die Proben mit hineingetragen: Ärger, Frust, Heimweh, Bitch-Fights auf der Station. Nichts bleibt außen vor, und wie denn auch, wenn es das Außen nicht mehr gibt, wenn alles – die Schuld der Vergangenheit, die Unfreiheit der Gegenwart und die Unbestimmtheit der Zukunft – sich auf einen Raum von acht Quadratmetern verdichtet.
Dentler versucht, jeden Fortschritt zu loben, redet sich den Mund fusselig. „Lernt die Texte, kommt mehr aus euch raus, übt zusammen.“ Sprachübungen, Atemübungen, Gehübungen. Draußen zieht der Sommer vorbei, aus Sommer mache ich mir ohnehin nichts, sagt Anke. Lena nickt dazu.
Manches bleibt bis zum Schluss eine Gratwanderung. Vor allem dann, wenn es um starke Gefühle geht, Wut oder Enttäuschung, wenn zwischen Spiel und Wirklichkeit unterschieden werden muss. Einmal soll Lena Anke anbrüllen. „Scheiße. Ich kann nicht mehr.“ Jedes Mal bleibt sie zu leise, zu zahm. Jedes Mal sagt Dentler: „Das war gut, Lena, aber sei noch lauter. Sei wütend. Sei angekotzt.“ Lena kichert dann wie ein Kind, das ein unanständiges Wort hört. Einmal sagt Anke: „Denk doch einfach an deine Mutter. Geh ab, wie du abgehst, wenn sie dir wieder blöd kommt.“ Lena hatte gleich Tränen in den Augen. „Nee. Jetzt...“, hat sie gestammelt. „Jetzt geht gar nichts mehr.“
Bevor Lena und Anke Freundinnen wurden, hatte es in Lenas Leben nicht viele Freundinnen gegeben. Eher Feinde. Die Mutter zum Beispiel, die immer wieder sagte, Lena würde nichts taugen. Gar nichts. Alles falsch machen. Alles. Der Stiefvater, der sich an ihr und ihrer Schwester verging. Wieder die Mutter, die das nicht glauben wollte, die sagte, ihr wollt mir nur meine Beziehung kaputt machen. So war die Kindheit, die Jugend. Kein gutes Wort.
Zum ersten Mal wird Lena mit 19 schwanger, vier Jahre später bekommt sie vom selben Mann noch ein Kind. Doch der Vater der beiden Mädchen heiratet schließlich eine andere Frau. Lena findet einen neuen Freund, wieder eine Schwangerschaft, diesmal ist es ein Sohn. Lena ist mit den drei Kindern überfordert. Bringt den Müll nicht raus, kann keine Ordnung halten. „Bis heute kann sie das nicht“, sagt Anke, und auch wenn Anke das freundlich sagt, sackt Lena bei solchen Sätzen zusammen und sagt mit leiser Stimme, sie wisse es ja, sie wolle doch versuchen, sich zu ändern.
Irgendwann jedenfalls, Lena war 26 Jahre, Bürokraft, noch immer Fußabtreter für ihre Mutter, kam das Jugendamt. Die Töchter wurden Lena entzogen und zu ihrer Mutter und dem Stiefvater gegeben. Ausgerechnet. Anke hat Angst, der Stiefvater wird Lenas Tochter antun, was er Lena antat. „Ich sag ihr immer, Lena, da musst du was tun, du musst das Kind da rausholen“, sagt Anke. Lena lässt dann die Schultern hängen. „Und was soll ich tun? Ich sitz im Knast, Anke.“
Lena und Anke haben sich von Anfang an alles erzählt. „Die tiefsten Geheimnisse“, sagt Anke. „Alles, was man sonst niemandem erzählt“, sagt Lena. Sie hat Anke als Zeichen ihres Vertrauens ihr Urteil zu lesen gegeben. In diesem Urteil stand, wie es dazu kommen konnte, dass die dreifache Mutter Lena an einem Sonntagnachmittag in der Badewanne ihr viertes Kind gebar, dem Kind einen Kuss gab und es wieder ins Wasser legte. Sich im Nebenzimmer anzog, zurück ins Bad ging. Da war das Kind tot. Es stand auch darin, dass Lena unter ihrer Mutter leidet, destruktive Beziehungen einging und niemals gelernt hat, Probleme zu durchdenken und Lösungen zu finden. „Vieles an Lena habe ich vorher nicht verstanden“, sagt Anke. „Aber danach war alles klar.“
Lena hätte das Baby in eine Babyklappe bringen, zur Adoption freigeben, sich Hilfe bei einer Beratungsstelle suchen können. Sie tat es nicht, sagt sie, weil sie sich schämte. Sie sah sich durch die Augen ihrer Mutter. Schon wieder schwanger. Zu blöd für alles.
Lena leugnet nichts. Sie weiß, was sie tat, ist unverzeihlich, also verzeiht sie sich nicht, glaubt auch nicht, dass jemand anderes es könnte. Die Entschuldigungen für Lena hat Anke gefunden und findet sie noch. Sieht nicht die Kindstöterin, sondern das geschundene, gescholtene Kind. Ein Kind kann böse Dinge tun, aber es ist selber nicht böse. Das ist die Botschaft, die Anke für Lena hat. Anke sagt, sie habe in ihrem Leben so viel bekommen, dass sie Lena, die fast nichts bekam, davon abgeben könne.
Ivan Dentler hat für sein Projekt Unterstützer in der Anstalt. Den Anstaltsleiter, die Gefängnispastoren. Sie sind Anhänger der Idee, dass auch die Gefangenen Menschen sind, die kreative und schöpferische Talente und Ambitionen haben. Die Seele verkümmert schnell im Knast. „Du wirst innerlich ganz staubig“, beschreibt Anke das.
Es dauert Wochen, bevor nicht nur Ivan Dentler, sondern auch die Schauspielerinnen denken: Es wird was. Irgendwann brechen die Verkrustungen auf, kommt erst langsam, dann immer stärker, ein Spieltrieb durch. Lena, die Zurückhaltende, hänselt, lästert, beschimpft Anke. Anke beugt sich, gibt nach, zieht den Kürzeren. „Super, legt noch ein paar Kohlen drauf. Ihr könnt das“, ruft Dentler jetzt nach den Szenen. „Na, das will ich meinen“, sagt Anke.
Bevor Anke ins Gefängnis kam, arbeitete sie als Altenpflegerin. Wohnte zu Hause, ein Resthof in Nordfriesland. Sie hat einen Freund, der zu ihr hält, auch in dieser Zeit im Gefängnis. Eine gute alte Mutter, von der Anke sagt, sie sei ihr Fels. „Meine Mama.“ Eine, die niemals Vorwürfe machte und immer anständig kochte: Fleisch, Soße, Kartoffeln – Sachen, die gute Mamas eben kochen.
Der schwere Betrug, der Anke zur Last gelegt wurde, war eine Erbstreitigkeit. So sagt es Anke und hält sich, was ihre Tat anbelangt, bedeckt. Die Schulden, die sie machte, hat sie mit dem Geld, das sie im Gefängnis verdient, fast abbezahlt. Wenn sie wieder rauskommt, wird sie ihre alte Stelle als Altenpflegerin wiederbekommen. Dann, sagt sie, will sie sich auf Sterbebegleitung spezialisieren. Zurück auf den Resthof ziehen, zurück zu Mama und ihren Kartoffeln, zum treuen Freund, zurück zu einem anständigen, sauberen Leben.
Niemand weiß, auch Lena wohl nicht, wie wahr diese Geschichten sind. Anke ist gut mit Worten, gut mit Träumen, und Lena ist genau die Richtige, um diese Träume zu würdigen. Anke hat Lena ihr Zuhause so lange in hellsten Worten beschrieben, bis Lena anfing, sich nach so einem Zuhause zu sehnen. So sehr, dass sie Ankes Mutter einen Brief schrieb. Nicht viel, nur ein paar Zeilen. Wie gut Anke zu ihr, Lena, sei und wie stolz diese Mutter auf ihre Tochter sein könne.
Ankes Mutter hat ihr geantwortet. Lena solle doch nach ihrer Gefängniszeit zu Besuch kommen. Wenn Lena von diesem Brief erzählt, wenn sie versucht, mit ihren holprigen Worten zu sagen, dass daraus ein Angenommen-Sein gesprochen habe, das sie nicht kenne, dann weint sie. Vielleicht weint sie auch, weil der Gegensatz zu dem, wo sie herkommt, unerträglich ist. Ankes Zuhause ist in Lenas Herz gepflanzt wie ein Arkadien des Friedens. Was wartet denn schon auf sie, Lena, irgendwann im Jahr 2020, wenn sie rauskommt. Dann, sagt Lena, werde sie wohl in einer kleinen Wohnung alleine leben, von der Mutter wolle sie sich bis dahin gelöst haben. Vielleicht finde sie ja eine Arbeit.
Wenn Lena weint, weint Anke mit. Und umgekehrt. Meist schauen sie sich dann verlegen an und brechen in Gelächter aus. So ein Schamgelächter ist das. Aber auch komplizenhaft. Am meisten weinen beide, wenn sie von dem Moment erzählen, von dem sie heute glauben, dass er sie für alle Zeit miteinander verbindet. Jener, als Lena Anke fragte, ob sie ihre Taufpatin werden wolle. Es war nämlich so, dass Anke christlich erzogen wurde und Lena in ihrem ganzen Leben niemals in der Kirche war.
Anke hat Lena, die nicht getauft, nicht konfirmiert, nie von einem Gotteswort getröstet wurde, in den Gefängnisgottesdienst mitgenommen. Anke, die dafür sorgte, dass Lena zum Gefängnispastor geht und mit ihm über das, was Lena am meisten umtreibt, redet: Schuld und Vergebung. Verdammnis und Gnade.
Sich taufen zu lassen, sagt Lena, war ihre eigene Idee. „Weil ich einen Halt brauche. Weil ich auch mal ein vernünftiges Leben will. So eines, in dem ich was auf die Reihe kriege und meine Kinder wiederhaben kann.“ Das klingt sehr nach Ankes Duktus. Wie vieles, was Lena sagt, so klingt, als habe es Anke gesagt.
Sie haben gemeinsam den Taufspruch rausgesucht. Erstes Buch Samuel, 16,7: Der Mensch sieht, was vor dem Auge ist, der Herr aber sieht das Herz. Es muss ein feierlicher Tag gewesen sein, für Lena der erste in ihrem Leben überhaupt, an dem sie im Mittelpunkt stand. Und der erste, an dem sie zu hoffen wagte, dass ihre Tat vergeben wird, wenn nicht von den Menschen, nicht von ihrer Mutter, dann doch von jemandem, der höher steht als alle anderen.
Über den Proben ist es Herbst geworden. Lena hat tatsächlich gelernt, Anke anzubrüllen. Anke hat gelernt, mit ihren Sätzen zu spielen. Die Aufführung des Stücks als Teil der 10. Lübecker Nacht des Theaters rückt näher. Es werden hundert Zuschauer erwartet, darunter die schleswig-holsteinische Justizministerin Anke Spoorendonk.
Lena lässt sich die Haare kurz schneiden. Sie sieht jetzt noch kindlicher aus. Anke sagt, sie wisse nicht, ob sie die Aufregung der Aufführung ertragen könne. Zu Lena sagt sie: „Das schaffst du. Ich bin ja bei dir.“
Die Aufführung wird ein hochemotionales Ereignis. Anke und Lena meistern ihre Rollen mit Bravour, ihnen zittern die Hände, aber sie hängen nicht ein Mal. Und dann: Applaus. Endlich Applaus. Verbeugungen, Rosen, wieder Applaus. Den Schauspielerinnen kommen die Tränen, die vielen Menschen, die Aufregung, alles entlädt sich nun in tiefster Rührung. Anke legt die Arme um Lenas Schultern, eng aneinander gelehnt nehmen sie die Publikumsbegeisterung entgegen, dann gehen sie ab, zurück in ihre Zellen.
Anke hat Lena erzählt, dass sie nach der Aufführung entlassen wird. Aber Anke erzählt immer, dass sie bald entlassen wird, und nie ist es wahr, doch jedes Mal schwören sich die beiden, ewig würden sie einander verbunden bleiben. Und jedes Mal hat Lena Angst, Anke könnte diesmal die Wahrheit gesagt haben.
Erschienen in Nido Mai 2015
In einer ugandischen Besserungsanstalt werden Straßenkinder und unerwünschte Söhne und Töchter wie Müll abgeladen. Hunger, Schläge, Kälte und Einzelhaft gehören von dort an für die Kinder zum Alltag. Das oft jahrelange Martyrium überleben nicht alle.
Der Direktor scheucht einen Jungen, den er zum Gespräch bestellt hatte, aus dem Zimmer. Dessen nackter Oberkörper zeigt, dass er ein Neuzugang ist. Neuzugänge wohnen halbnackt in jener
Baracke, die sie hier „the black house“ nennen. Der Direktor sagt, bitte, nehmen sie Platz, Sie sind von weither gekommen, um hier bei uns die schlimmen Kinder zu sehen. Kinder, die schlecht für
die Gesellschaft sind. Der Junge von eben sei zum Beispiel ein besonders schwerer Fall. Ein unbelehrbarer Dieb, der nun schon zum fünften Mal gefangen wurde. Was der Junge denn gestohlen habe?
„Essen“, sagt der Direktor. Aber diesmal würden sie ihn gut bewachen und frühestens mit 18 Jahren werde er wieder in Freiheit kommen.
Der Direktor trägt einen grauen Anzug, der ist ihm zu groß, Löcher an den Ärmeln und Schmutz am Revers. Sein Büro ist im oberen Stock des Empfangsgebäudes, das einst von den britischen Kolonialherren erbaut wurde und sich lange dem Verfall ergeben hat. Dunkler Schimmel dringt durch die letzten Flecken weißer Aussenfarbe, die Erker sind weggebrochen, die Fenster ohne Scheiben. Nur die Plakette, die davon berichtet, dass vor sieben Jahren die First Lady, Mama Janett Museveni, höchstpersönlich zum Wohle der Kinder Ugandas diese Stätte renovieren ließ, glänzt noch golden in der Sonne.
Wir sind in Kampiringisa. Eine Verwahranstalt für Kinder in Uganda, eine Art Gefängnis mit Freigang. Ein Ort, dessen Trostlosigkeit sich der Worte entzieht. Für die Kinder, die man hierher bringt, die man wie Müll im staubigen, dreckigen Hof der Anstalt auskippt und fortan schlägt, einsperrt, hungern und frieren lässt, bleien an diesem Ort nur zwei Optionen: zu zerbrechen oder immer wieder zu fliehen, zurückgebracht und schwer bestraft zu werden. Wer nach Kampiringisa kommt, ist verloren und wer aus Kampiringisa fortläuft, der ist es auch.
Der Direktor hat für jene, über die er hier gemeinsam mit zwei bewaffneten Polizisten und einer Handvoll schlagstockbewehrter Chargen wacht, klare Bezeichnungen. Verbrecher seien dies, die die Straßen der Hauptstadt Kampala unsicher machen oder ungehorsam gegen ihre Eltern sind. In dem Gebäude, in dem er in der Schäbigkeit seines Büros residiert, haben sich Vögel eingenistet. Der Gestank ihres Kots mischt sich mit dem von Fäkalien, der dringt aus dem Keller, wo man bis vor vier Jahren die Kinder in einem fensterlosen Raum an einen Stuhl band und mit Elektroschocks traktierte. Alle, bis sie vor Schmerz und Angst ihren Darm entleerten. Manche, bis sie starben. Bis hinauf in das Büro des Direktors dringt dieser Gestank und vermischt sich dort mit dem Odor von Urin, Furcht, Gewalt und Einsamkeit, der über Kampiringisa liegt wie ein fauliger Himmel.
Wir dürften gar nicht hier sein. Irgendwer im tiefsten Kern der ugandischen Regierung, die diesen Ort zu verantworten hat, scheint zu ahnen, dass Kampiringisa Ugandas Schande ist, vor Journalisten und damit vor der Welt gut verborgen sein muss. Irgendwer muss ahnen, dass ein Land, welches sich als Demokratie bezeichnet und internationale Kinderrechtskonventionen unterzeichnet hat, hier schuldig wird. Doch wo kein Kläger, da ist keine Anklage und jene, deren Menschenrecht die ugandische Regierung hier mit Füßen tritt, haben keine Lobby. Es sind Kinder, zurzeit 221, die jüngsten zwei Jahre alt und kaum fähig, auf eigenen Beinen zu laufen, die ältesten 19 Jahre alt und mit Gesichtern, in die das Grauen Linien gezeichnet hat.
Um nach Kampiringisa zu kommen, geben wir uns als Unterstützter jener Hilfsorganisation aus, ohne deren Hilfe die Zustände in Kampiringisa noch unerträglicher wären. Foodstep, heißt die Organisation, sie wird geleitet von Nathalie Seliffet, einer Belgierin, die diesen Ort vor vielen Jahren zufällig sah und ihr christlich motiviertes Lebenswerk darin fand, die Kinder von Kampiringisa retten zu wollen. Mit ihr und einem der ehemaligen Kampiringisa-Kinder, dem 17jährigen Yvan, fahren wir, von der Hauptstadt Kampala kommend, eine Stunde Richtung Westen. Kampiringisa liegt abseits der asphaltierten Straße in einem weiten Tal, das idyllisch wäre, stünden die Baracken nicht wie aschfahle Geschwüre in der grünen, hügeligen Landschaft. Gleich wird einem klar, dies ist ein Ort an dem Kinder keine Besserung erfahren, sondern an dem ihre Seelen zerstört werden.
Der Geruch ist das erste, was einen anfällt wie ein wildes Tier. Er entsteigt der Erde, den Gebäuden. Er klebt an den Kindern, die angerannt kommen, barfuß und in zerfetzter Kleidung, die keinen Schutz vor dem kühlen Wind bietet, der von den Hügeln weht. Sie stürzen sich hungrig nach Körpernähe auf die Besucher, klammern sich an Beine und Arme. Kalte Hände greifen nach einem, krallen sich in die Haare, zerren an der Kleidung. Wer näher dran ist, verteidigt seine Position durch Zischen, Treten und Schlagen, die weiter hinten stehenden Kinder kämpfen ums Vordringen mit Zähnen und Fäusten. Bis ein Wärter mit Schlagstock sich nähert und sie davonstieben.
Der Direktor ist ein Angestellter der ugandischen Regierung, ein kleiner Befehlsempfänger, aber seine Macht über diese Kinder ist groß. Ihr Schicksal liegt allein in seiner Hand. Die meisten dieser Kinder sind vogelfrei und rechtlos. Straßenkinder, die niemanden haben, der sie behütet. Sie werden in Kampala von der Polizei aufgelesen, in Kampiringisa wie Tiere gehalten. Über das Maß ihrer Strafe bestimmt der Direktor. Für Betteln gibt es ein halbes Jahr, für das Stehlen von Essen ein Jahr. Wiederholungstäter, Kinder, die schon mal in Kampiringisa waren und flohen, müssen mindestens zwei Jahre bleiben. Oder mehr. Es gibt Kinder, die sind seit zehn Jahren in Kampiringisa und längst ist ihnen jede Hoffnung auf ein Leben ohne Qual abhanden gekommen. Sie heißen Sam und Dennis, Esther und Yvonne, Namen, die sie sich selbst gaben, weil sie sich an keine Eltern erinnern. Als wir sie fragen, warum sie in Kampiringisa sind, wiederholen sie, was man ihnen hier eintrichtert: Damit ich ein besserer Mensch werde.
Die andere Gruppe sind Kinder, die von ihren Eltern gebracht wurden. Unerwünschter Nachwuchs, dem man irgendeine Untat unterstellt. „Stubborn“ seien sie gewesen, sagen diese Kinder: Dickköpfig. Die meisten Eltern kommen nie wieder, um ihre Kinder abzuholen.
Bei unserem ersten Besuch ist es Mittag, als wir ankommen. Gerade kocht das „Frühstück“ auf dem Feuer: eine dünne Suppe aus Maismehl und Wasser. Einige Kinder versuchen, sich dem Topf zu nähern, werden mit Ruten weggeschlagen. Die Ausgabe der dünnen Brühe gleicht einer Raubtierfütterung. Jedes Kind kämpft darum, als erstes an den Topf zu kommen, mit ihren Tellern sitzen sie dann im Dreck, mit den Fingern löffeln sie die Suppe in den Mund, stürzen sich auf die leeren Töpfe und lecken den Rest aus. Die meisten Kinder haben gerade Röteln, die Kleinen haben die Pusteln aufgekratzt, eitrige Wunden sind daraus geworden, auf denen sich die Fliegen tummeln.
In Kampiringisa hat die Angst viele Orte. Die Zelle ist einer davon. Hinter dem Empfangsgebäude ist ein staubiger Platz, auf dem die Kinder spielen können. Vier Stöcke markieren zwei Fußballtore. Dahinter ein Gebäude mit Küche und Essraum, dann folgen die Baracken. Dunkle Gänge. Yvan, das ehemalige Kampiringisa-Kind, der mit zwei Jahren zum ersten Mal hierher kam und sieben mal floh, hatte uns von dieser Zelle erzählt. Viele Wochen habe er damals dort verbringen müssen, nackt auf dem kalten Boden, zusammen mit manchmal 40 Kindern. So eng war es, dass man nicht liegen konnte. 40 Kinder aneinander gedrängt und das einzig Gute daran, hat Yvan gesagt, war die Körperwärme der anderen.
Wir stehen vor einer Tür, zweieinhalb Meter Höhe Eisen, von außen ein Riegel, gesichert mit einem Schloss. Wo das Eisen endet, beginnen Gitterstäbe, fünfzig Zentimeter voneinander entfernt. Die Zeiten der wochenlangen Zellenhaft sind vorbei, doch immer noch werden einzelne Kinder dort für ihre Vergehen eingesperrt. „Hallo“, rufen wir, nackte Füße tapsen, ein Sprung gegen die Tür, zwei Hände greifen die Stäbe. Zwischen den Stäben erscheint das Gesicht eines Jungen. „Hallo. Kannst du sprechen?“ Nicken. Die Pupillen gleiten hin und her, versuchen die Gefahr zu bestimmen, die von uns aus geht. „Wir tun dir nichts. Wie heißt du?“ „Nisamba“ sagt der Junge. „Wie lange bist du schon da drin? „Zwei Tage“. Hast du gegessen? Er schüttelt den Kopf. „Heute noch nicht.“ „Weshalb bist du hier?“ „Weil ich ein schlechter Mensch bin.“
Nisamba ist zum dritten Mal in Kampiringisa. Der 17jährige ist ein Straßenkind. Zweimal ist er schon geflohen, nun hat ihn die Polizei vor ein paar Tagen wieder aufgegriffen. „Die Zelle“, hatte der Direktor beim Gespräch behauptet „ist nur für Hitzköpfe, nur für ein paar Stunden.“ Wenig später sorgt er dafür, dass Nisamba während der Zeit unserer Anwesenheit die Zelle verlassen darf.
Auch vom black house hatte Yvan uns schon erzählt. Davon, wie die Kinder bis vor einigen Jahren dort auf dem Boden lagen, keine Betten, keine Decken, in der Ecke für die Notdurft ein paar Eimer, die selten geleert wurden. Viele Kinder hatten Cholera, die Fäkalien wuchsen zu einem Berg an. Die Wärter warfen Essen durch die Fenster, die waren ohne Scheiben und der Nachtwind war immer kalt. Yvan beschrieb, wie sich die Kinder auf das Essen stürzten. Immer gewannen die Starken und die Kranken, die nicht schnell genug waren, blieben hungrig. Im black house starben die Kinder an Malaria und Cholera und niemanden kümmerte es.
Die Anzahl der Tage, die man im black house verbringt, hängt von den „Untaten“ ab, davon, ob man sich in Kampiringisa schnell in sein Schicksal ergibt oder wütet und weint. „Yvan“, fragen wir, „wie hält man das aus als kleines Kind? Die Einsamkeit, den Schmerz, das Gefühl des Ausgeliefert-Seins?“ „Ich habe viel geweint“, sagt Yvan. „Und gehofft, dass ein Wunder geschieht.“ Manche der Kinder, erzählt er uns, hätten aus Verzweiflung die letzten Reste der einstigen Glasscheiben aus den Fensterrahmen entfernt, hätten sie mit den bloßen Händen kleingeschlagen und geschluckt. Andere hätten sich, wenn sie in die normalen Schlafräume verlegt wurden, mit ihren Hosen erhängt. Die größte Furcht der Kinder war der „elektrische Stuhl“ im Kellerraum des Empfangsgebäudes, der mit Metallstücken beschlagen war, an denen Stromkabel hingen. Die Kinder wurden dort festgebunden. Jede Bewegung ein Stromschlag. „Man durfte nicht einschlafen“, sagt Yvan und in seinen Augen ist ein Abglanz des Entsetzens von damals zu sehen. „Einschlafen konnte den Tod bedeuten.“
Ein Junge, eines der Langzeit-Kampiringisa-Kinder, die sich Im Laufe der Jahre Privilegien erworben haben, schließt uns das black house auf. Er wird danach die Wächter informieren, doch die halten sich zunächst zurück, uns bleibt eine halbe Stunde mit den Jungen dort. Neun sind es, sie liegen auf schmierigen, zerrissenen Schaumstoffmatratzen unter filzigen Decken. Dass es heute Betten gibt und Latrinen für die Jungen, dass sie nicht mehr nackt sein müssen, sondern wenigstens ihre Hose anbehalten dürfen, ist Foodstep zu verdanken.
Der stechende Gestank des Raumes ist fast unerträglich, er legt sich als bitterer Geschmack auf die Zunge. An einer Wand klebt ein Poster des letzten Abendmahls, schon so verblichen, dass die Jünger kaum noch zu erkennen sind. Nur Jesus in der Mitte ist noch klar umrissen. In eine Ecke hat jemand in ungelenker Schrift geschrieben: Never give up hope, please. Bitte gib die Hoffnung niemals auf.
Die Jungen haben Angst mit uns zu reden, Angst, dafür bestraft zu werden. Sie liegen apathisch auf den Betten und heben kaum den Kopf. Nur einer sagt, ja, er wolle erzählen, irgendeiner müsse ihn doch endlich mal hören. Lagongo heißt er, 15 Jahre alt, er kommt aus einer weit entfernten Provinz des Landes und wurde zu einem Jahr „verurteilt“. Die Richter: seine Mutter, sein Stiefvater. Lagongos Verbrechen: er hatte versucht, sich umzubringen. Nach Jahren der körperlichen und sexuellen Misshandlungen durch seinen Stiefvater, Jahre der Knochenbrüche, Demütigungen, des Hungers, hatte er das Leben nicht mehr ausgehalten. Essen gab es für den Jungen selten, drei Jahre lang ging er zur Schule, dann beschloss der Stiefvater, er solle lieber arbeiten. Morgens auf den elterlichen Feldern, nachmittags auf den Feldern der anderen Dorfbewohner. Lagongo wurde zum Kindersklaven. Irgendwann knüpfte sich eine Schlinge, nachdem er die Nachbarn angebettelt hatte, ihm zu helfen, und alle hatten mit den Schultern gezuckt.
Dass seine Eltern ihn nach dem Jahr wieder abholen, daran glaubt er nicht, und wenn, dann hieße das nur neues Martyrium. Er wird in Kampiringisa bis zur Volljährigkeit bleiben, dort immerhin zur Schule gehen, doch die Jahre werden nicht reichen, einen Abschluss zu machen. Was sagt man diesem Jungen, der klar erkennt, dass er keine Zukunft hat. Ohne eine Heimat, ohne ein Feld, das er beackern kann, um zu überleben. „Wohin soll ich gehen?“, fragt Lagongo. Wir haben keine Antwort. Kaum ein Gefühl könnte klebriger sein als jenes, den Raum wieder zu verlassen und seinen Blick im Rücken zu spüren.
Kampiringisa war einmal eine Kaserne. Um das Jahr 2000 widmete man den leerstehenden Bau zur Besserungsanstalt für Kinder um. Damals gab es noch Psychologen und Sozialarbeiter, Essen und medizinische Versorgung. Doch dann flohen immer mehr Menschen vor den Konflikten im Norden von Uganda, aus dem Acholiland, wo der notorische Kriegsverbrecher Joseph Kony Kinder entführte und zu Soldaten machte und die Menschen in riesigen Flüchtlingslagernd darbten. Flohen aus Karamoja, wo sich bewaffnete nomadische Gruppen bekämpften und es ohnehin kaum Nahrung gab. Als Kampala sich nicht als Rettung erwies, setzten sie dort ihre Kinder aus. Schließlich waren es Tausende, die im Rinnstein schliefen und Essen stahlen. So viele, dass die Polizei begann, die Kinder in Lastwagen zu laden und nach Kampiringisa zu schaffen. Irgendwann hörte die Regierung auf, dort die Sozialarbeiter zu bezahlen, Essen und Medikamente zu bringen. Ein Erwachsener nach dem anderen verschwand, die Kinder waren sich selbst und der Gnade einiger prügelnder Aufpasser überlassen. Sie versuchten, Gemüse anzubauen, doch die Aufpasser verkauften den größten Teil der Ernte. Das waren die Jahre, in denen Yvan in Kampiringisa lebte, durchhielt allein mit dem Gedanken, eines fernen Tages noch ein anderes Leben zu haben. 2006 unterzeichnete die Regierung die UN-Kinderrechtskonvention und ratifizierte einen Aktionsplan, um dem Problem der Kinderarmut und der vielen Straßenkinder Herr zu werden. Implementiert wurde davon bis heute wenig.
Foodstep begann 2008 in Kampiringisa zu arbeiten. Es brauchte viele Jahre und zähe Verhandlungen mit der Regierung, um die Lage dort für die Kinder erträglich zu machen. Erst wurden Betten und Decken gebracht, dann Essen, Medikamente, Kleidung. Eine Schule wurde gebaut, Lehrer eingestellt. Nach und nach gelang es, die Strafmaßnahmen zu mildern, das ungezügelte Prügeln einzudämmen. Scheiben wurden in die Fenster eingesetzt, Waschräume und Toiletten gebaut. Auch der Raum mit dem elektrischen Stuhl wurde geschlossen. Das Gemüse, das auf den Feldern angebaut wird, bekommen heute die Kinder, außerdem gibt es Küche, Schweine, Hühner, eine Tischlerei, Schmiede und Schusterei als Ausbildungsstätten. Nach und nach wurde aus der Hölle ein Ort, an dem man immerhin überleben kann.
Bei unserem nächsten Besuch ist in Kampiringisa der einmal im Monat stattfindende „Partytag“. Nathalie hat lange reden müssen, um den Direktor zu überzeugen, dass die Kinder nicht nur Kleidung und Nahrung, sondern auch einige Stunden des Frohsinns brauchen. Der Direktor hat lange geantwortet, Musik und Spiel verderbe die Kinder, sie würden verwöhnt und aufmüpfig.
Als wir an diesem Partysamstag ankommen, haben die Kinder versucht, sich sauber zu waschen. Nathalie bringt Nudeln und Fleisch, von den eigenen Feldern haben die Kinder Kohl geholt. Das Feuer brennt schon, Wasser kocht. Yvan macht den DJ. Viele der älteren Jungen hier kennen ihn noch, gemeinsam haben sie schon auf den Straßen von Kampala gelebt, gemeinsam die schlimmen Jahre in Kampiringisa überstanden. Der Unterschied ist nur: Yvan ist raus. Er gehörte zur Gruppe der ersten Kinder, die Nathalie aus der Anstalt holen und in ihrem Foodstep-Programm unterbringen konnte. Yvan hatte sich an sie geklammert damals und ihr gesagt, er wolle sterben, er halte die Schläge nicht mehr aus. Inzwischen leben 85 gerettete Kinder in Nathalies Programm und bekommen regelmäßige Mahlzeiten, Schulbildung, schlafen in hellen, sauberen Räumen. Da ist Rosie, zwei Jahre, die Nathalie in Kampiringisa unter einer Plane fand, die dort im Sterben lag und dann doch überlebte, Mose, dessen Hand seine Mutter in kochendes Öl tauchte, Abraham, der ein Menschenopfer werden sollte, weil sein Vater glaubte, dadurch reich zu werden – jedes von Nathalies Kindern hat eine solche Geschichte.
Yvan hat sich an diesem Tag chic gemacht, ein Jacket angezogen. Er sticht aus den Kindern heraus wie ein Paradiesvogel. Seine Augen haben lange den stumpfen Ausdruck der Einsamkeit verloren, wie sie in den Augen der Kampiringisa-Kinder liegt. „Keine Schläge, kein Hunger, keine Kälte mehr, jeden Tag bin ich darüber froh“, hatte er zu uns gesagt und davon erzählt, dass er nun Tourismus studiert und ein Buch über Straßenkinder und ihr Schicksal schreibt. Yvan ist sich sicher, errettet zu sein. Doch am Ende dieses Tages weiß er es besser.
Vielleicht wütend über den Frohsinn, der sich für ein paar Stunden breit macht, befiehlt der Direktor - noch während die Kinder fröhlich tanzen - Yvan zum Gespräch. Foodstep verderbe ihn, sagt er, Yvan würde sich wohl für etwas Besseres halten. Der Direktor droht, ihn jederzeit wieder nach Kampiringisa holen zu können, dann macht er Nathalie Vorhaltungen, sie strafe die Kinder zu wenig. Eigentlich wollte diese ihn bitten, ein Mädchen mitnehmen zu dürfen, das schwanger ist, doch nun sagt sie davon lieber nichts. Yvan weint, packt die Musikanlage zusammen, verkriecht sich ins Auto, Nathalie drängt zum Aufbruch. Noch einmal klammern sich die Kinder an unsere Beine, und als wir abfahren, steht Lagongo da und sieht uns an, als warte er noch immer auf eine Antwort. „Manchmal“ sagt Yvan irgendwann auf der Rückfahrt, „denke ich, wer einmal in Kampiringisa landet, der kann niemals mehr entkommen. Dieser Ort ist wie der Teufel, der dir deine Seele abkauft.“
Wer Kampiringisas Kinder unterstützen möchte, der kann Sponsor bei Foodstep werden. Nähere Informationen unter: www.kampiringisa.org oder unter foodstep@hotmail.com